Ausschnitte aus ihrer Biographie

Wie ich als Kind den Krieg erlebte
Johanna Sagasser, geb. Sohnrey, Klein Wiershausen

Als der Krieg begann war ich 5 Jahre. Ich befand mich zu der Zeit in der Pfalz, wo sich die ersten Kriegstage anders abspielten als hier in der dörflichen Idylle von Klein Wiershausen. Das Wort Krieg ist mir nicht im Bewusstsein. Die Menschen reagierten mit Hektik und aufgeregtem diskutieren. Schwarzes Papier wurde be­sorgt, um als erstes die Fenster zu verdunkeln. Da mein Onkel bei der Eisenbahn war und die französische Grenze nicht weit, bekamen wir schon gleich in den er­sten Tagen die Kriegsauswirkungen zu spüren. Das Haus lag direkt an der Eisen­bahnstrecke vom Rheinland zur Grenze. Schon in den ersten Nächten mussten wir in den Keller, weil immer wieder vereinzelt Aufklärungsflugzeuge am Himmel erschienen. Offenbar galt es für den Feind zunächst Bahn und Straßenverläufe und vor allem Fabrikanlagen auszukundschaften.Aus unserm Dorf erfuhr ich später, dass Georg Nolte den ersten Stellungsbefehl erhalten hatte, um die Bahnstrecke in Ellershausen zu bewachen. Er durfte seinen Posten nicht verlassen. Mit einem Pferdewagen oder auch zu Fuß versorgte ihn seine Frau Sophie Nolte mit Essen und dem Wichtigsten. Es ging von Mund zu Mund, dass im Radio der Einmarsch in Polen bekannt gegeben war. Es gab nur wenige Volksempfänger im Dorf. Somit hörte man öfter als Kind "hüte spräket de Führer, willt je rowerkomen?". Auch hier im Dorf wurde die Verdunklungspflicht streng gehandhabt.

Lebensmittelmarken mussten vom Bürgermeister aus Göttingen geholt und verteilt werden. Für Brot, Nährmittel und Kleider. Da in unserm Dorf ausschließlich klei­nere und größere bäuerliche Betriebe waren, galten alle als Selbstversorger, denen man nach Anzahl der Familienangehörigen eine Zuteilung von eigenen Produkten an Fleisch, Milch und Eiern zuerkannte. Jede Kuh und jeder Morgen Land wurde mit einem Ablieferungssoll belegt. Selbst pro Huhn mussten in der Woche eine ge­wisse Anzahl Eier abgeliefert werden. In der Zeit legten die Hühner noch nicht so fleißig wie heute, sodass oftmals nicht etwas für den Eigenbedarf übrig blieb. Da waren die größeren Bauern besser dran, da man von einer großen Masse eher et­was abzweigen kann.

Offizielle Einberufungen erhielten dann : Nolte Georg, Bick Fritz (als kinderloser), und die jungen Männer im Wehrdienstalter aus der Familie Klapproth und Bürger. Heinrich Klapproth wurde zu Giftgasarbeiten in Lenglern herangezogen, an deren Folgen er 3Ojährig verstarb. Trotz einem halben Liter Milch als Sonderzulage pro Tag war die Blutzersetzung nicht aufzuhalten.

Der überaus kalte Winter l940/4l brachte endlose Hilferufe nach warmer Kleidung für die Soldaten. Da es fast nichts mehr zu kaufen gab, wurden alte Sachen aufge­ribbelt und Handschuhe, Mützen und Schals gestrickt, vor allem Kopfschützer und warme Strümpfe. Auch wir bekamen die bissige Kälte hautnah zu spüren. Unser Schulweg nach Settmarshausen .wurde von so beißenden Ostwinden begleitet, dass wir vor Kälte geweint haben. Unser Schuhwerk und die Kleidung waren so unzulänglich, dass mein Bruder furchtbare Frostbeulen an den Füßen hatte. Mäntel oder gar lange Hosen gab es nicht. Bei den selbst gestrickten Strümpfen war immer ein Stückchen Bein frei, wo die Kälte tüchtig zubeißen konnte. In unserer Verzweiflung machten wir Erstklässler uns gemeinsam von Eitelkeiten frei, stöberten in alten Truhen , und waren glücklich, die alten Umschlagtücher unserer Großmütter gefunden zu haben. Jeder musste einmal als erster gehen, um die andern im Gänsemarsch folgend von der scharfen Ostluft abzuschirmen.

Die ersten gefangenen Polen trafen ein, die die Arbeit der an der Front befindlichen Männer verrichten mussten. Gleichzeitig gab es strenge Bedingungen, wie man mit den Fremdarbeitern umzugehen habe. Sie durften nicht mit am Familientisch sitzen, sollten um zehn Uhr im Bett sein und sich unter keinen Umständen mit ihren Landsleuten oder andern Arbei­tern treffen.

Willi Hasselmann war inzwischen ebenfalls eingezogen worden, während G. Nolte aus gesundheitlichen Gründen wieder entlassen war. Die Fremdarbeiter wurden immer mehr. Waren teilweise sehr aufsässig, ließen sich oft von den Frauen nichts sagen, und das Versammlungsverbot wurde gründ­lich missachtet. Im Hause Fritz Nolte und Berta geb Capelle ging es immer sehr locker zu. Somit trafen sich die Arbeiter dort regelmäßig tauschten und handelten untereinander. Hauptsächlich ging es um Rauchwaren. Zigaretten gab ja nicht, aber es wurde um Tabakblätter aus eigener Anzucht gefeilscht. Selbst Sauerkirschblätter wurden getrocknet klein geschnitten und in Zeitungspapier ge­dreht geraucht. Der Pole von Obermann vom Rischenkrug hatte von seinem Herrn eine Jacke erhalten. Für welche Tauschware auch immer, jedenfalls hatte er die Jacke dem Polen von Fritz Nolte gegeben. Als Herr Obermann dieses mitbekom­men hatte, ging er zum Arbeitertreff bei Noltens und verlangte, dass die Jacke wie­der zurückgegeben werden sollte. Es kam zu Streit und Handgemenge, wo sich F. Nolte einschaltete und sagte, dass der Tausch rechtens sei und es dabei bleiben sollte. So - du hältst noch zu den Pollaken, sagte Obermann, das wirst du schwer büßen. Ich werde dich anzeigen, zumal du immer zulässt, dass die sich alle bei dir treffen dürfen. Einige Tage später kam die Gestapo, holte Fritz Nolte ab, und er kam ins KZ. Dort verbrachte er Jahre bis zum Kriegsende.

Als der Krieg immer auswegloser wurde, zog man sämtliche Männer und auch Frauen zu Schanzarbeiten zusammen. Wir hatten eine sehr nette Ukrainerin ,Natja, auch sie musste mit und hat furchtbar geweint. Nachträgliche Suche hat ergeben, dass sie ums Leben gekommen ist.

Als Kind hatte man an dem chronologischen Ablauf des Krieges noch keinen An­teil. Fernsehen gab es nicht, Radio hatten wir nicht und die Zeitung las man mit acht oder auch zehn Jahren noch nicht, obwohl ich die Zeitung immer austrug. Wenn wir mittags aus der Schule von Settmarshausen kamen, gegessen hatten, musste ich zum Rischenkrug um die Zeitung zu holen, die aus dem Zug geworfen wurde. Danach wurde sie ausgetragen.

Bei Fliegeralarm konnten wir die Sirenen aus Göttingen hören. Nachts mussten allerdings reihum die Männer Wache stehen, um den entfernten Alarm nicht zu über­hören. Auf dem alten Thie vor dem Gänsepump war ein großer Schacht auf dem ein Eisendeckel lag.

Wenn in Göttingen die Sirenen gingen, wurde dieser Deckel an gehoben und eini­ge Male fallen lassen. Der Krach war nicht zu überhören. Dann war es jedem selbst überlassen, ob er in den Keller ging oder liegen blieb. Zu Beginn des Krieges ließen die Eltern ihre Kinder meist schlafen, zumal man sich in unserm kleinen Dorf ziemlich sicher wähnte.

Als zu Beginn des Krieges Friedrich Sohnrey, mein Vater, wohnhaft direkt in der Dorfmitte Nachtwache hatte, mit dem Kanaldeckel Alarm für die Einwohner geschlagen hatte, tauchte ein einzelnes Flugzeug (Aufklärungsflieger) auf. Plötzlich flog eine riesige helle Bombe auf mich zu, berichtete er. Ich hatte das Gefühl, den Kopf einziehen zu müssen. Sie flog mit großer Geschwindigkeit kurz über unser Haus weg. Ich vernahm einen lauten Aufschlag ohne genau orten zu können, wo sie eingeschlagen war. Es war stockfinster in der Nacht. Da sich nach längerem Hinhören nichts tat, galt es den Morgen abzuwarten. Bei Tagesanbruch stellte man fest, dass ein Objekt an der Wegelange im Berg steckte. Die Stelle wurde abge­sperrt und eine Meldung nach Göttingen durchgegeben. Die Poststelle bei Georg Nolte hatte das einzigste Telefon im Dorfe. Noch am gleichen Tag kam ein Räumkomando um die Bombe zu entschärfen. Es handelte sich um eine Leucht­bombe, die an einem riesigen gelben Seidenfallschirm heruntergekommen war. Beim Anblick dieser Berge von herrlichster Seide schlug das Herz bei uns Mäd­chen höher. Ein Kleid aus diesem wunderbaren Stoff wäre unser Traum in der entbehrungsreichen Zeit gewesen.

Ein andermal , als im Bereich Heißental nachts eine Bombe runter ging, war die Erschütterung so stark, dass ich im Schlaf nur dachte, kurz durch den Knall aufgewacht, jetzt geht die Welt unter, das macht nichts, du liegst ja im warmen Bett.

An besonders klaren strahlenden Tagen, wenn Alarm war, zogen riesige Bomben­geschwader über uns hinweg. Am Klang der Motorengeräusche konnten wir hören, wie schwer sie beladen waren. Wenn sie ihre Lasten über einer der Großstädte ab­geworfen hatten, klang es ganz anders. Fast täglich wurden solche Großangriffe durchgeführt.

Zunehmend wurden die Gefahren größer. Auch für uns Dorfbewohner kam ein Erlass, dass sich jede Familie einen Bunker in die Erde zu bauen habe. Für die mei­sten war es ziemlich einfach, da sie sich auf dem kürzesten Weg in den jeweiligen Böschungen in den Berg graben konnten. Damit die Bunker nicht zu dicht angelegt wurden, mussten sich die Familien zusammentun. Das Unterdorf am Ortsein­gang, wo heute das Grundstück Schätze ist und das Oberdorf in der Böschung Zimmermann gegenüber, bei Bicks und an der Wegelange, wo heute das Grund­stück Schreivogel ist.

Die schlimmste Nacht verbrachten wir im Bunker als Kassel bombardiert wurde. Unendliche Geschwader kreisten über uns. Es wirkte fast orientierungslos, weil kein Ende abzusehen war. Dann wurden die Christbäume angezündet, wie man sagte ,wenn der ganze Himmel über dem Territorium mit Leuchtbomben erhellt wurde. Der Himmel war ein Lichtermeer. Es war so hell, dass wir in Klein Wiers­hausen draußen die Flugblätter lesen konnten, die gleichzeitig abgeworfen wurden. Die Erde bebte von den Detonationen der Bomben. Die Einsätze gingen die ganze Nacht. Die Christbäume wollten nicht erlöschen, und immer wieder neue Ge­schwader kamen nach. Dazwischen schoss unaufhörlich die Flak und es trudelte ab und an ein brennendes Flugzeug vom Himmel. Brandgeruch war inzwischen zu ver­nehmen, und verkohlte Papiere flogen in den Lüften. Von allen Seiten tauchten Jä­ger auf, die die Bombenflugzeuge beschossen. Es war ein Inferno ohnegleichen. Die Stadt wurde dem Erdboden gleich gemacht, und viele Opfer waren zu beklagen. Es war eine Feuerhölle. Wir Kinder wurden von den Erwachsenen immer wieder in den Bunker zurückgeschickt. Die Großen standen draußen und wir waren auch neugierig. Silbrige Strahlen fielen vom Himmel. Es waren Unmengen von Silberla­metta, das die Ortung von Flak und Jäger ablenken und verunsichern sollte. Am nächsten Tag wurden von uns Kindern und Erwachsenen diese Mengen eingesam­melt, die überall in der Landschaft verteilt lagen. Es galt als kostbarer Rohstoff, der dann abgeholt wurde. Die ganze Umgebung war mit verkohlten Aktenstücken übersät. Tagelang roch es nach Rauch und Verbranntem.

Der Ausnahmezustand wirkte sich auch im schulischen Bereich aus. Es gab kein Brennmaterial mehr, so dass die Schule nicht geheizt werden konnte. Wir mussten zwar jeden Tag zur Schule nach Settmarshausen, um uns Schularbeiten abzuholen. Lehrkräfte waren auch kaum vorhanden, somit blieb nicht einmal Zeit, die Arbeiten nachzusehen. Oftmals gab es auch schon wieder Fliegeralarm. Wir wurden Settmarshäuser Kindern zugeteilt, bei denen wir den Keller mit aufsuchen mussten. Un­ser Lehrer Herr Müller war viel mit organisatorischen Dingen beschäftigt. Ein wichtiger Posten bei der Partei ließ ihn häufig abwesend sein. Sei es Empfang neuer Fremdarbeiter oder mit zunehmenden Bombardierungen der Großstädte, Unterbringung von Ausgebombten. Für uns hieß es dann, heute müsst ihr Blätter sammeln. Im Laufe der Jahreszeiten mussten die verschiedensten Teeblätter ge­sammelt werden, die auf dem Schulboden zum Trocknen ausgelegt oder aufge­hängt wurden. Häufig gab es das auch als Hausarbeit, am nächsten Tag so und so viel Kräuter mitbringen zu müssen. Der Heimweg war wiederum eine Angstpartie für uns. Immer mehr tauchten Tiefflieger auf, die alles Lebende beschossen. Die Bauern bei der Feldarbeit, oder Fahrzeuge auf den Straßen, wie den Milchwagen auf dem Weg von Klein Wiershausen nach Dransfeld zur Molkerei. Wir Kinder waren schon so abgerichtet, dass wir auf einer Straßenseite gingen, um uns schnell in den Graben werfen zu können. Die Flieger tauchten so schnell auf, dass man kaum reagieren konnte, schon ihre Bordkanonen ratterten und im gleichen Moment wie­der verschwunden waren.

Die Front kam immer näher. In den Zeitungen wurde von der Wende mit den Wunderwaffen der V1 berichtet. Diese Raketen sollten noch alles retten. Die letz­ten, die noch immer auf einen Sieg hofften, wurden über Radio und Zeitung mit Worten neu motiviert.

Um die Osterzeit rückten einig Busse , die das Rote Kreuz auf ihren Dächern hat­ten, bei uns ein. Von Kranken oder Verwundeten keine Spur. Es stellte sich heraus, dass es höhere Dienstgrade mit Krankenschwestern waren, die ihre Fahrzeuge vol­ler Lebensmittel hatten . Sie lebten wie die Maden im Speck. Mit köstlichsten Konfitüren, Knäckebrot und vor allem Schokolade, die wir durch die Kriegsjahre überhaupt nicht kannten. Kinder sind unschuldig neugierig; somit fiel für uns dies und jenes ab. Als wieder riesen Bombengeschwader unser Dorf überflogen, hatten wir große Angst. Man sagte uns allerdings, das Rote Kreuz genieße internationales Schutzrecht. In dieser Zeit fielen auch in Göttingen die ersten Bomben. Als Universitätsstadt war Göttingen wirtschaftlich nicht von großem Interesse. Bombardiert wurde der Bereich des Bahnhofs, dem auch die alte Anatomie unmittelbar am Zoologischen Institut zum Opfer fiel.

Täglich zogen große Gruppen Menschen, die sich in erster Linie aus ehemaligen Fremdarbeitern rekrutierten , durch. Sie bewegten sich zwischen Fronten. Die Ernährung war das größte Problem. Sie versuchten zu betteln, aber selbst in den ländlichen Bereichen war das Nahrungsangebot knapp. Es war unmöglich, die vielen Hungrigen zu befriedigen, zumal alle Häuser mit Vertriebenen voll belegt wa­ren, die Verpflegung äußerst knapp war und somit viel gestohlen und eingebrochen wurde. Es konnte beim besten Willen nicht allen geholfen werden.

Die Ereignisse überschlugen sich. Es wurde von den Erwachsenen viel von den Frontverläufen gesprochen. Als Kind hatte man natürlich keine Vorstellung, wenn es hieß, die Front kommt immer näher. Dann dachte ich höchstens, hoffentlich sind sie bald da , dann muss ja ordentlich was los sein. Von weiten waren bereits die Detonationen zu hören.

Am 7.April rückte die erste Vorhut von deutschen Soldaten an. Es waren hochrangige SS Offiziere, die sich hier verschanzen wollten. Im Wald südlich vom Ort und an der Heerstraße gruben sie sich Schützengräben. Im Dorf suchten sie Spaten und Schaufeln und vor allem Männer zur Mithilfe. Mein Vater sagte ihnen, dass es doch nichts mehr nützen würde, da erwiderten sie, wenn sie nicht sofort still sind, legen wir sie um. Die meisten Familien mit Kindern verbrachten die Nacht im Keller. Bei Tagesanbruch flogen die ersten Geschosse über unser Dorf. Die Mutter kam die Treppe heraufgestürzt und riss uns Kinder aus den Betten. Erst im Keller wurden wir warm angezogen. Es krachte an allen Enden. Wir verkrochen uns in die äußerste Ecke und hielten uns die Ohren zu. Die Erde bebte von den Panzern, die durchs Dorf rollten. Laufend kamen welche in den Keller, die sich verstecken wollten. Meine Mutter hatte alle Mühe sich dagegen zu wehren, denn es war bekannt, dass man kurzen Prozess machte mit denen, die Lancer versteckt hielten. Direkt an unserer Hausecke wurde versucht, mit der Panzerfaust einen Panzer abzuschießen.

Unser Vater war nicht zu Hause. Da er das Amt des Bürgermeisters inne hatte, musste er sich um alles kümmern. Es waren Dinge in Settmarshausen zu erledigen, von wo er unter Geschoßhagel durch die Landschaft zurückgekommen war. Plötz­lich stand er völlig aufgeregt in der Kellertür und sagte: haben wir nicht noch et­was in der Schluckflasche, Nolte ist getroffen worden. Er hatte bei Ahlborns (heute Bandmanns) in der Haustür gestanden, als er von einem Geschoßsplitter getroffen wurde. Der Splitter hatte das Türfutter durchschlagen und ihn in die Schulter getroffen. Offenbar sehr tief. Er war gleich ohnmächtig umgefallen. Ärzte gab es keine und eine offizielle Todesursache wurde somit nicht festgestellt. Unter Beschuss überquerte mein Vater die Straße und kam auch bald wieder zurück mit der Nachricht, dass alles Bemühen vergeblich gewesen sei. Er trug meiner Mutter auf, durch den Garten zu gehen und unserer Nachbarin Frau Nolte die traurige Nachricht zu überbringen. Mein Vater sagte im gleichen Atemzuge, ich muss zu Bicks, dort brennen Stall und Scheune. Beide Eltern verschwanden, und wir Kinder waren allein. Wir waren froh, als unsere Mutter endlich wieder da war.

Gegen Mittag ließen die Kampfhandlungen nach. Die Kellertür wurde aufgerissen, und herein kamen die ersten amerikanischen Soldaten mit vorgehaltenen Gewehren. Sie sahen sich um, wer alles im Keller war, und fragten unmissverständlich, ob hier Soldaten versteckt wären. Während die einen gegangen waren, kamen die nächsten.

Es wurde allmählich ruhiger, so dass sich unsere Mutter schon mal aus dem Keller traute. Im Haus fand sie ein ziemliches Chaos vor. In der Stube, was gleichzeitig auch die Amtsstube war, waren sämtliche Akten aus dem Schrank gerissen und auf der Erde verteilt. Man hatte in allen Räumen kurz reingesehen. Alle Türen standen offen, so dass wir aus der Küche auf die Straße sehen konnten. Es bot sich unsern Blicken ein Meer von Stahlhelmen. Offenbar Feuerpause. Ein Kommen und Gehen, um Ausschau zu halten, wo sie sich zum Mittagessen etwas warm machen könnten. Meine Mutter legte neues Holz aufs Feuer, stellte Pfannen und Töpfe hin, und wir gingen in den Garten. Man überließ den Soldaten die Küche, wo sie sich alle mög­lichen für uns unbekannten Dinge aus Dosen warm machten.

Große Freude hatten sie alle an unsern kleinen Gösseln, die ein paar Tage alt waren und neben dem warmen Ofen standen. Plötzlich erschien ein schwarzer Soldat, zählte uns Kinder und kam mit einem großen Stück Schokolade für jeden zurück. In allen Einfahrten waren Militärfahrzeuge abgestellt, um die Ortsdurchfahrt frei zu machen. Wir trauten uns das erste Mal aus der Haustür zu sehen. Im Unterdorf auf dem Platz vor Fritz Nolte lagen tote amerikanische Soldaten aufgebahrt. Später er­fuhren wir, dass aus den Kellerfenstern sieben amerikanische Soldaten erschossen worden waren.

Bei all den vielen Eindrücken hatten wir Kinder gar nicht gemerkt, dass unsere Mutter in großer Sorge war. Schon einige Stunden waren vergangen und unser Vater war immer noch nicht zurück. Es dauerte nicht mehr lange, und er kam durch die hinteren Hausgärten. Noch völlig erregt berichtete er, dass er in letzter Minute aus dem brennenden Stall gekommen sei. Er hatte versucht, alle Kühe ab­zubinden und aus dem Stall zu treiben. Ein hartes Stück Arbeit, da die Tiere alle in Panik waren und der brennende Dachstuhl jeder Zeit einzustürzen drohte.

Durch die Wiesen wollte er wieder nach Hause gehen, da die Straße von Militär verstopft war. Plötzlich hörte er einen energischen Ruf hinter sich. Amerikaner mit vorgehaltenen Gewehren kamen auf ihn zu. Sie wollten wissen, aus welchem Grund er sich hinter den Häusern aufhielt. Durch Verständigungsschwierigkeiten kamen einige Missverständnisse auf. Sie nahmen wohl an, dass er in geheimer Mis­sion unterwegs war. Nach einigem hin und her konnte er den Männern klar machen, dass er die Kühe abgebunden hatte. Zum Glück war er von oben bis unten mit Kuhhaaren bedeckt, die sein Alibi waren. Es waren noch nicht alle Bedenken aus­geräumt, und man nahm ihn mit an den brennenden Gebäuden vorbei. Ein höherer Dienstgrad schaltete sich ein. Er gestikulierte und sprach etwas in Englisch, was mein Vater nicht verstand. Er meinte sich neben die gefangenen deutschen Soldaten stellen zu sollen, die mit gehaltenen Händen im Genick an der Hausmauer standen. Er stellte sich dazu mit dem Gesicht zur Wand. Dann machte man ihm klar, dass er gehen könne, die Kuhhaare seien überzeugend. Wir waren froh, dass wir unsern Vater noch hatten. Unser Nachbar lebte nicht mehr, und wir Kinder lagen uns weinend in den Armen.

Über die Mittagszeit hinaus setzte plötzlich wieder ein ohrenbetäubender Kano­nenhagel ein. Wir sahen, dass zwischenzeitlich in den tiefer gelegenen Wiesen des Unterdorfes eine Kanone neben der andern aufgestellt worden war. Dieses Trom­melfeuer war ins Tal hinunter gerichtet. Über die Reichweiten konnten wir uns keine Vorstellung machen. Es ging Schlag auf Schlag den ganzen Nachmittag bis zum Abend. Am andern Morgen waren sie alle weg und riesige Berge von leeren Kartuschen lagen da. Einige schafften sich jede Menge dieser edlen Rohstoffe nach Hause. Die restlichen wurden einfach in die ausgehobenen Schützengräben gewor­fen und mit der Erde abgedeckt. Allerdings erst Wochen später, denn es lag dermaßen viel Kriegsmaterial herum, was zunächst nicht zu übersehen war. Die zurückziehenden Soldaten hatten sich ihrer Ausrüstungen entledigt . Überall lagen Gewehre, Helme, Seitengewehre und vor allen Dingen jede Menge Munition. Die Amerikaner hatten ein Gewirr von Telefonkabeln gelegt, die alle liegen blieben. Die Panzernachhut war in einem bestimmten Abstand mit ihren großen Kettenwal­zen quer durch die Landschaft gefahren. Der eine im Tal, der nächste gradlinig durch den Kelberg und der nächste auf der Höhe.

Die wenigen Männer, die im Dorfe waren, erkundeten am nächsten Tag erst mal die Umgebung. Und richtig, sie wurden findig. Oben an der Heerstraße hinter ei­nem Busch fanden sie einen toten Soldaten. Mein Vater erkannte ihn wieder, es war einer der fanatischen SS Soldaten. Bei der Gelegenheit fielen ihm die drei Sol­daten ein, die bei Bicks an der Mauer gestanden hatten. Nach dem Brand war die Mauer eingestürzt. Wir müssen unbedingt die Steine wegräumen, um nachzusehen, ob die Soldaten darunter liegen. Und richtig, der Verdacht bestätigte sich. Sie wa­ren erschossen worden. Die Papiere und Habseligkeiten wurden sichergestellt und die Angehörigen benachrichtigt. Die vier Soldaten wurden zunächst erst einmal auf dem hiesigen Friedhof beigesetzt. Ohne Särge, daran war gar nicht zu denken. Eingehüllt in Zeltplanen. Als die Zeiten sich einigermaßen normalisiert hatten, wurden sie auf einen Soldatenfriedhof zusammengelegt. Lange Zeit später kamen die An­gehörigen, um die letzten Erinnerungsstücke abzuholen.

Am darauf folgenden Tag schreckte eine Detonation erneut die Menschen auf. Ich dachte, kommt die Front etwa zurück? Wir liefen raus und hörten ein entsetzliches Schreien. Das Kind einer im Hause F. Nolte wohnenden Familie hatte eine Eierhandgranate gefunden. Der Sohn Fritz Nolte war dabei und auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte der Sohn Fritz Hasselmann gestanden. Der Finder fand den Tod, die Kinder Nolte und Hasselmann waren schwer verletzt. Man packte die Verletzten liegend auf Stroh auf einen Pferdewagen und fuhr Richtung Dransfeld. In Göttingen tobte noch der Krieg. Auf der B3 wurden die Verletzten von einem Sanitätsfahrzeug der Amerikaner übernommen. Die Eltern kamen zurück, wussten aber lange nicht, wo ihre Kinder geblieben waren. Es gestaltete sich überaus schwierig dieses herauszufinden. Ohne Passierschein durfte man seinen Wohnort nicht verlassen. Inzwischen hatten sie herausgefunden , dass sie doch in der Klinik in Göttingen lagen. Zweimal in der Woche kam eine amerikanische Abordnung, die für einsichtige Gründe Passierscheine ausstellte. Bei Fritz Nolte war ein Bein stark durch Splitter verletzt, heilte aber gut wieder an. Fritz Hasselmann kam nicht durch. Er hatte Splitter in der Lunge. Es galt einige Beerdigungen auszurichten. An Särge war nicht zu denken. Es wurden einfach nur Kisten zusammen gehämmert.

Aus diesem Chaos dauerte es sehr lange, bis sich das Leben wieder langsam nor­malisierte. Durch den Krieg und die Vertreibung waren die Menschen alle durch­einander gewürfelt. Der Wiederaufbau hat sich keine prägnanten Punkte gesetzt. Es wurde ein schleichender Prozess, der viele Jahre dauerte.